Über Raum und Zeit hindurch uns selbst und die Welt erkennen

Yukiko Muramoto 57. Dekanin der Philosophischen Fakultät

 

„Can the past help the present?“ (Kann die Vergangenheit der Gegenwart helfen?)

„Can the dead save the living?“ (Können die Toten die Lebenden retten?)

Dies sind Worte Han Kangs, der ersten asiatischen Schriftstellerin, die den Nobelpreis für Literatur erhielt, aus ihrer Nobelpreisrede von 2024. Sie erfuhr viele Anfechtungen, während sie einen Roman über einen Volksaufstand in ihrem Heimatland und die sich daran anschließende Katastrophe schrieb. Doch meinte sie, sie habe gerade in diesen Anfechtungen einen Moment erfahren, wo sie überzeugt war, dass die Vergangenheit der Gegenwart helfe und die Toten die Lebenden retteten.

Die beiden Fragen sind wichtig auch für uns als Angehörige der Philosophischen Fakultät, denn viele unsere Fächer beschäftigen sich mit vergangenen Ereignissen und verstorbenen Menschen.

Worüber freuten sich die Menschen, die in anderen Zeiten und Räumen lebten als wir? Worum sorgten sie sich? Welche Konflikte hatten sie? Auf welche Weise und in welchem Umfang können wir erkennen, was Menschen bewegte, denen wir nicht persönlich begegnen können? Von Interesse und Einbildungskraft getrieben, versuchen wir, ein Gespräch mit den Toten zu führen, als hätten wir ein ausreichendes Bewusstsein von den damit verbundenen Schwierigkeiten. Mit unterschiedlichen Methoden in unterschiedlichen akademischen Bereichen wie Archäologie, Geschichte, Linguistik, Literaturwissenschaft, Philosophie und Religionswissenschaft streben wir danach, die Botschaften auszulegen, die unsere Vorfahren in Worten und Dingen hinterließen, wie zum Beispiel Zeugnisse des Denkens, Kunstwerke oder Überreste und Relikte von Gemeinschaften.

Jedoch liegt der Wert der Forschung nicht allein im Überzeitlichen und Überregionalen. Durch die Forschung lernen wir nicht nur „die Anderen“, die in vergangenen Zeiten lebten, sondern auch „uns Selbst“ kennen. Erst indem wir uns mit den Menschen anderer Zeiten und Gesellschaften beschäftigen, können wir in der Relation verstehen, in welcher Gesellschaft wir selbst leben und wer wir, die darin leben, sind. Dafür spielen nun (wage ich zu behaupten) auch die Methoden akademischer Felder, die sich wie Psychologie und Soziologie nicht mit der Vergangenheit, sondern vielmehr mit der Gegenwart beschäftigen, eine wichtige Rolle. Die vielfältigen Forschungsrichtungen an der Philosophischen Fakultät bieten uns die Gelegenheit, uns selbst zu relativieren, uns am Punkt der „Gegenwart“ in langen Zeitspannen und weiten Räumen zu verorten und damit auch unsere Unersetzbarkeit zu erkennen.

Außerdem kann uns die Erforschung der Entscheidungen, die frühere Menschen mit bestimmten Konsequenzen trafen, einen Maßstab an die Hand geben, um richtige Entscheidungen für unsere Zukunft zu treffen. Zwar kann man vergangene Verhältnisse nicht unmittelbar auf spätere abbilden. Auch gibt es möglicherweise nicht nur die eine Lösung, da viele wichtige Entscheidungen in einer Gesellschaft mit einem Dilemma verbunden sind. Doch können wir uns auf künftige Erscheinungen in gewisser Weise vorbereiten, indem wir die Erfahrungen früherer Menschen vorübergehend dekontextualisieren und ihre Quintessenz anschließend rekontextualisieren. Welche Hinweise haben die Menschen der Vergangenheit für uns, die wir so vielen gravierenden Problemen wie Umweltgefährdung, Kriegen und Konflikten, Naturkatastrophen, unbekannten Pandemieerregern, wachsender Ungleichheit etc. gegenüberstehen? Wir dürfen diese Hinweise nicht übersehen.

So betrachtet, sollte die Antwort auf die beiden oben angeführten Fragen gewiss „Ja“ lauten. Um die durch Raum und Zeit gesandten Botschaften zu nutzen, wird es künftig, glaube ich, immer wichtiger, dass die unterschiedlichen, mit den Grundproblemen der heutigen Gesellschaft befassten akademischen Disziplinen (ob sie zu den Geisteswissenschaften oder zu den Naturwissenschaften zählen), zusammenarbeiten und die Geisteswissenschaften dabei ihren spezifischen Beitrag leisten. Ich hoffe von Herzen, dass alle, die bisher an der Philosophischen Fakultät studiert haben und einst an ihr studieren werden, ihren Beitrag dazu leisten.

 

57. Dekanin der Philosophischen Fakultät

Yukiko Muramoto

Übersetzer Takayasu ITO